Heute will ich wieder einmal raus. Aus dem Haus. Und aus der Espresso-Routine. Das Wetter ist prächtig. Zumindest hier an der Küste. Schon der sonnige Nachmittag vor zwei Tagen hat mich gelockt und viel Elan geweckt. Damals suchte ich mich durch zur Quinta das Cruzes in Funchal. Gemäss Internet geöffnet von 09.30 bis 15.30 Uhr. Um 13.30 Uhr stand ich damals vor geschlossenen Toren. Lange Nase. Wegen Corona behördlich zu. Einfach vergessen, dies auf der Homepage eventuellen Besuchern mitzuteilen. Unverrichteter Dinge musste ich heimkehren. "Wenn möglich bitte wenden!"
Das soll heute besser gelingen. Denn auch im Norden ist es nach Wetterbericht schön und warm. Also wähle ich Ponta Delgada zum Ziel. Wo allen verfügbaren Informationen nach keine Einschränkungen gelten. Einzige Bedenken: in den Bergen hängen immer noch schwarze Wolken. Diese Sorgen sind schnell zerstreut. Bei der Ausfahrt aus dem grossen Süd-Nord-Tunnel unter Encumeada blendet mich die Sonne geradezu. Und hier ist es sogar noch wärmer als in Funchal. Yippieyo!
Am Ziel angekommen steuere ich als erstes die Igreja Senhor Bom Jesús an. Diese Kirche steht direkt am Meer. Der Legende nach wurde im 15. Jhdt. an dieser Stelle ein hölzernes Kruzifix an Land gespült. Das der Pfarrer in eine Kapelle weiter im Landesinneren brachte. Auf wundersame Weise war es aber am nächsten Tag wieder an derselben Stelle zu finden. Also entschied der Pfarrer, an dieser Stelle eine neue Kapelle zu bauen. Aus der schliesslich die heutige Pfarrkirche entstand. Tatsächlich steht diese auf Grundmauern aus dem 16. Jhdt.. Der Innenraum ist in einem relativ bunten Barock gehalten. Seit 1990 schmückt ein modernes Deckengemälde eines einheimischen Künstlers das Kirchenschiff. Welches zahlreiche Besucher anlockt.
Direkt neben der Kirche befindet sich das Meerwasserschwimmbecken. Nicht gerade rege besucht. Aber immerhin ziehen zwei Unentwegte darin ihre Bahnen. Für mich ideal und wichtig: das geöffnete Café. So komme ich zum dringend benötigten WC und zum etwas weniger dringend erwünschten Espresso mit Cigarillo. Zudem kann ich mich bei Meeresrauschen und Blick auf die weite See neu sortieren.
Per Zufall stolpere ich in Google Maps über den herrschaftlichen Landsitz "Solar do Aposento". Früher, als der Zuckerrohr- und Weinanbau noch eine grosse Rolle spielten, kam Ponte Delgada ja eine deutlich wichtigere Stellung zu als heute. Wovon die vielen, teils verfallenen Herrensitze hier zeugen. Und einer dieser Landsitze wurde von der ehemaligen Besitzerin, die keine Nachkommen hatte, als Erbe dem Staat vermacht. Unter der Bedingung, ihn zu erhalten und Besuchern als Zeugnis einstiger Grösse als Museum zugänglich zu machen.
In diesem "Rückzugsort" (sinngemässe Übersetzung von Solar do Aposento) lerne ich Pedro kennen. Seines Zeichens Verwalter und freiwilliger Guide für Fremde, die sich hierher verirren. Und ein begnadeter Geschichten-Erzähler. Über Donna Hilária, ihre Spleens und ihren Dünkel. Und wie das damals so funktionierte. Zwischen den Herrschaften, dem Pfarrer und der Kirche. Oder mit dem Zuckerrohr und der Rum-Brennerei. Oder bei der Weinproduktion. Wie die Trauben von mehreren Bediensteten barfuss gestampft wurden und die Besitzerin im grossen Lehnstuhl daneben sass und sie antrieb. Überhaupt: über das damalige Verhältnis von Herrschaften und Gesinde (mir fällt dabei die Nähe der Begriffe "Gesinde" und "Gesindel" auf). Ihm kommt dabei entgegen, dass er selber hier im Dorf aufgewachsen ist. Einiges selber miterlebt und dazu noch vieles aus erster Hand von seinen Eltern erfahren hat. Er klärt mich auch auf, wie das früher so war mit den herrschaftlichen Stadt- und Landsitzen. Auf dem Landsitz wurde gearbeitet - oder eben liess man arbeiten. Der Stadtsitz diente der Erholung, der Repräsentation und dem sozialen Leben. Ganz anders als heute. Wo das Geld in der Stadt erworben wird und man sich auf dem Lande erholt. So verdanke ich Pedro eine interessante und kurzweilige Stunde.